Die Wing Chun-Legende
(nach Grandmaster Ip Man)
Die Gründerin des Ving Tsun Kung Fu-System, Miss Yim Ving Tsun, war geboren in Canton, China. Als junges Mädchen war sie intelligent, athletisch, aufrichtig und männlich. Sie war verlobt mit Leung Bok Chau, einem Salzhändler aus Fukien. Kurz nachdem ihre Mutter starb, wurde ihr Vater Yim Yee fälschlicherweise in ein Verbrechen verwickelt und landete fast im Gefängnis. So flüchtete die Familie weit weg und ließ sich schließlich am Fuß des Tai Leung–Berges, an der Grenze von Yunnan und Szechuan, nieder. Dort bestritten sie ihr Leben.
All dies geschah während der Herrschaft von Kaiser K’anghsi (1662–1722). Zu dieser Zeit wurde das Kung Fu im Siu Lam-Kloster (Shaolin-Kloster) auf dem Sung-Berg, Honan, sehr stark. Dies erweckte die Furcht der Manschu-Regierung, die Truppen sendete, um das Kloster anzugreifen. Sie waren dabei nicht erfolgreich. Ein Mann namens Chan Man Wai war in jenem Jahr der Erstplazierte in der Beamtenprüfung. Er wollte sich bei der Regierung beliebt machen und schlug einen Plan vor. Er schmiedete einen Komplott mit dem Shaolinmönch Ma Ning Yee und anderen. Sie legten Feuer im Kloster, während Soldaten das Kloster von außen angriffen. Shaolin brannte nieder und die Mönche flüchteten. Die buddhistische Äbtissin Ng Mui, Abt Chi Shin, Abt Pak Mei, Master Fung To Tak and Master Miu Hin flüchteten und flohen auf verschiedenen Wegen.
Ng Mui zog sich zurück in den Tempel des Weißen Kranichs auf dem Tai Leung Berg (ebenso bekannt als Chai Har Berg). Dort lernte sie Yim Yee und seine Tochter Yim Ving Tsun kennen, weil sie in ihrem Laden Bohnen einkaufte. Sie wurden Freunde. Ving Tsun war zu der Zeit bereits eine junge Frau, und ihre Schönheit zog die Aufmerksamkeit eines ortsbekannten Schlägers. Er versuchte Ving Tsun zu zwingen, ihn zu heiraten. Sie und ihr Vater waren besorgt. Ng Mui hörte davon und kümmerte sich um Ving Tsun. Sie willigte ein, Yim Ving Tsun Kampftechniken zu lehren, damit sie sich selbst schützen könne. Dann wäre sie fähig, das Problem mit dem Schläger zu lösen und Leung Bok Chau, den ihr versprochenen Mann, zu heiraten.
Also folgte Ving Tsun Ng Mui in die Berge und begann Kung Fu zu lernen. Sie trainierte Tag und Nacht und meisterte die Techniken. Dann forderte sie den ortsbekannten Schläger zu einem Kampf heraus und besiegte ihn. Ng Mui bereitete sich darauf vor, durch das Land zu reisen, aber bevor sie sie verließ, verlangte sie von Ving Tsun, die Kung Fu-Traditionen strikt zu ehren, ihr Kung Fu nach der Hochzeit weiter zu entwickeln und den Menschen zu helfen, die Manchu-Regierung zu stürzen und die Ming Dynastie wieder herzustellen. So wurde Ving Tsun Kung Fu von der Äbtissin Ng Mui weiter gegeben.
Nach der Hochzeit lehrte Ving Tsun ihr Kung Fu ihrem Ehemann Leung Bok Chau und er gab sein Kung Fu an Leung Lan Kwai weiter. Leung Lan Kwai gab es an Wong Wah Boh weiter. Wong Wah Bo war ein Mitglied einer Operngruppe an Bord einer Dschunke, die bei den Chinesen als die „Rote Dschunke“ bekannt war. Wong Wah Bo arbeitete auf der Dschunke mit Leung Yee Tei. Es geschah, das Abt Chi Shin, der aus Shaolin geflüchtet war, sich als Koch ausgegeben hatte und nun auf der Roten Dschunke als Koch arbeitete. Chi Shin lehrte Leung Yee Tei die Sechs-und-einen-halben-Punkt-Stock Techniken.
Wong Wah Bo war eng mit Leung Yee Tei befreundet und teilten alles, was sie über Kung Fu wussten. Zusammen verglichen und verbesserten ihre Techniken und so wurden die Sechs-und-einen-halben-Punkt-Stock Techniken in das Ving Tsun Kung Fu integiert.
Leung Yee Tei gab das Kung Fu an Leung Jan weiter, ein sehr bekannter Kräuterarzt in Fat Shan. Leung Jan verstand die tiefsten Geheimnisse von Ving Tsun und erreichte den höchsten Grad an Fertigkeit. Viele Kung Fu-Meister kamen, um ihn herauszufordern, aber alle wurden besiegt. Leung Jan wurde dadurch sehr berühmt. Später gab er sein Kung Fu an Chan Wah Shun weiter, der mich vor vielen Jahrzehnten als sein Schüler annahm. Ich studierte Kung Fu an der Seite meiner Kung Fu-Brüder wie Ng Siu Lo, Ng Chung So, Chan Yu Min und Lui Yu Jai. Ving Tsun wurde so bis zu uns weitergegeben und wir sind auf ewig unseren Kung Fu-Ahnen und Lehrern dankbar. Wir werden uns immer an unsere Wurzeln erinnern und sie schätzen, und dieses gemeinsame Gefühl wird unsere Kung Fu-Brüder immer eng miteinander verbinden. Das ist der Grund, warum ich die Ving Tsun Gesellschaft in´s Leben rufe und ich hoffe, dass meine Kung Fu-Brüder mich in diesem Vorhaben unterstützen. Das wird sehr wichtig sein für die Förderung des Kung Fu.
(Deutsche Übersetzung von Horst Drescher aus: Kwok, Samuel und Massengill, Tony: “Mastering Wing Chun”, Los Angeles, 2008)